Im Patent wird angeführt, dass es sich um eine Para-Feed-Anordnung handele, aber tatsächlich scheint es eine verkappte Push-Pull-Anordnung mit ungleichen Bauelementen und einem Koppelkondensator zu sein, der an die Primärseite des Ausgangsübertragers angeschlossen ist. Man könnte genauso gut eine bipolare Stromversorgung verwenden und die Primärseite des Ausgangsübertragers an einem Ende mit Gleichstrom koppeln und das andere Ende erden. Im Patent wird ausführlich dargelegt, dass der P-Kanal-MOSFET Q1 gegenphasig zur Triode stromführend ist: die eigentliche Definition des Gegentaktbetriebs. Fast erinnert mich die Schaltung an alte Nelson Pass Designs mit MOSFETs und Übertragern. Eine kleine Mogelpackung also? I wo, ein Schelm wer Böses dabei denkt. Ich bin jedenfalls froh, dass die mir bekannte Physik weiterhin Bestand hat und wir hier eben keine klassische Single-Ended-Triode vor uns haben – aber das macht den Verstärker umso spannender!
Ein weiteres besonderes Merkmal sind die von Western Electric verwendeten Ausgangsübertrager, die nicht wie üblich unterschiedliche Abgriffe für die verschiedenen Lautsprecherimpedanzen haben. Die Toroidal-Ausgangsübertrager haben jeweils nur eine Wicklung (für vier, acht oder 16 Ohm) und können beziehungsweise müssen beim Wechsel auf einen Lautsprecher mit anderer Impedanz gewechselt werden. Diese Lösung finde ich sehr gelungen, denn die kleine Einschränkung in der Flexibilität sowie der damit einhergehende Montageaufwand (durch den Fachhändler) bedeuten andererseits weniger umwickeltes Eisen, damit eine Gewichtseinsparung und ein für den vorgesehenen Zweck optimiertes Bauteil. Klanglich also die reine Lehre. Und so erklärt sich auch das subjektiv niedrige Gewicht dieses Verstärkers von 22 Kilogramm.
Bei meinen Hörtests verwendete ich die unterschiedlichsten Lautsprecher, wobei alle über hohe Wirkungsgrade zwischen 90 und 98 Dezibel pro Watt und Meter verfügten. Generell konnte ich den WE 91E damit nicht an seine Leistungsgrenzen bringen, stets war der limitierende Faktor mein Ohr, das irgendwann nicht mehr lauter konnte oder wollte. Dabei agierte dieser Vollverstärker im Tiefton wie ein Schraubstock, der nie auch nur einen Hauch des Zweifels aufkommen ließ, wer hier das Sagen hatte. Dieser Western-Electric-Amp war ein Kontrollfreak im Bassbereich, der mit klarer Kontur zeichnete und für eine Triode schon absurd tief in den Keller stieg. Im Vergleich zu typischen Single-Ended-Trioden vermisste ich dabei lediglich etwas verspielte, federnde Leichtigkeit, was letztlich aber eine Frage des persönlichen Geschmacks ist. Apropos federnde Leichtigkeit: Die stellt sich andernorts üblicherweise dann ein, wenn sich der kaum nennenswerte bis praktisch nicht existente Dämpfungsfaktor typischer Single Ended Trioden (SET) bemerkbar macht. Und zwar so, dass ein in seine Nullposition zurückschwingender Tieftöner über seine Schwingspule ein Rückinduktionssignal generiert, das die Triode, da kaum Dämpfung vorhanden ist, nicht in den Griff bekommt. Diese zusätzlichen Freiheitsgrade des Tieftöners enden zum Beispiel in Überschwingern, werden oft dennoch als angenehm empfunden, sind aber streng genommen Verfärbungen und Verfälschungen des Musiksignals.
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