Untersucht man den Einfluss der störenden, frühen Reflexionen im Abhörraum näher, stößt man auf eine „Wahrnehmbarkeitsschwelle“. Die Wahrnehmbarkeit des negativen Einflusses von frühen Reflexionen hängt von Ihrer Laufzeit, Lautstärke, der spektralen Zusammensetzung und Ihrer Richtung ab. Je mehr Reflexionen zeitlich dicht beieinander, respektive aus der gleichen Richtung beim Hörer eintreffen, desto früher werden sie als störend wahrgenommen. Auf Basis der Wahrnehmbarkeitsschwelle ist es möglich, entsprechende Vorgaben und Empfehlungen bezüglich der Reflexionseigenschaften eines Raumes zu definieren. In der Literatur findet man in diesem Zusammenhang häufig den Begriff des V-Kriteriums, das sich aus dem Pegelverlauf der Wahrnehmbarkeitsschwelle ableitet. In Abbildung 5 ist dieses Kriterium auf das Reflektogramm des Beispielraumes angewandt.
Es ist gut zu erkennen, dass nach dem Direktschallimpuls ein „Freibereich“ (eine so genannte Initialzeit) von ca. 10-15 Millisekunden empfehlenswert ist, in dem Reflexionen des Abhörraumes weitgehend unterdrückt werden. Dies führt dazu, dass alle wichtigen Informationen des Direktschallpaketes vom akustischen Originalgeschehen zumindest theoretisch weitgehend wiederhergestellt werden können. Im Anschluss daran darf der Abhörraum einen gewissen „Eigencharakter“ entwickeln, mit dem er positiv zum klanglichen Geschehen der Reproduktion beiträgt. Das realisierte Verhalten im Raum sollte dabei für beide Wiedergabekanäle (beziehungsweise für alle bei Mehrkanalkonstellationen) möglichst symmetrisch sein. Wie bereits in „Raumakustik Teil 1‟ beschrieben, muss der Abhörraum bei einer zweikanaligen Wiedergabe unterstützend mitarbeiten, um eine glaubhafte virtuelle klangliche Situation zu schaffen. In Abbildung 6 ist nun die Charakteristik eines Abhörraums dargestellt, für den man das Attribut „klingt gut“ verwenden kann.
Hier ist gut zu erkennen, dass neben den unvermeidlichen Resten der Fußbodenreflexion (Impuls bei ca. 13,8ms) alle störenden Frühanteile der Reflexion stark vermindert sind und nach der Initialzeit Schallenergie mit einem hohen Diffusschallanteil (keine einzelnen Peaks, sondern ein Paket von gleichmäßig verteilten Reflexionsanteilen) wirksam wird.
In der Praxis ist es aus physikalischer Sicht nicht gerade leicht, ein solches Verhalten des Raums zu erreichen. Dazu sind eine Reihe von markanten Oberflächen-Veränderungen erforderlich. Verfolgt man die Wege, die der Schall für Reflexionen im Raum zurücklegt, so wird deutlich, dass sich im „Frühbereich“ der Reflektogramme ein „geometrisches Patchwork“ von relevanten Oberflächen verbirgt. Neben den reinen Wandflächen gehören hier aber ebenso gut Gegenstände und Einrichtung mit zu den beeinflussenden Bereichen. Das „Flächen-Patchwork“ ist für jeden Raum individuell unterschiedlich. Es macht also nicht unbedingt Sinn, mit einem vorgefertigten Schema an die Probleme eines Raumes heranzugehen, da deren geometrische Voraussetzungen völlig unterschiedlich sein können. Alte Betrachtungsweisen wie beispielsweise „Living End-Dead End“ Konstellationen sind hier nicht hilfreich und sollen deshalb auch nicht berücksichtig werden.
Es geht vielmehr darum, eine genaue Analyse aller wichtigen Reflexionsbereiche nach ihrer Stärke und Beschaffenheit, zeitlichen und örtlichen Lage vorzunehmen und anhand des V-Kriteriums entsprechende Oberflächenveränderungen vorzunehmen. Für Zonen, deren Reflexionen sich innerhalb der Initialzeit befinden, stehen zwei Methoden der Beeinflussung zur Verfügung. Dies ist einmal die Absorption des eintreffenden Schalls oder die Veränderung der Richtung durch eine Schalllenkung vom Hörer weg (sowie natürlich alle sinnvollen Mischungen aus beiden Ansätzen). Für beide Ansätze ist es unerlässlich, das Verhältnis zwischen der Wellenlänge/Frequenz des Schalls und der jeweiligen Fläche in Betracht zu ziehen. Zu berücksichtigen ist dabei auch das Abstrahlverhalten der Lautsprecher. Stark bündelnde Hornlautsprecher strahlen beispielsweise deutlich weniger in Richtung der Stirnwandfläche auf ihrer Rückseite ab, als nach vorn und hinten abstrahlende Elektrostaten. Je nach Raumgestaltung ist das spezifische Abstrahlverhalten der unterschiedlichen Systeme aber nicht zwangsläufig ein Vor- oder Nachteil!
Bei der Absorption von störenden Reflexionen wird häufig der Fehler begangen, dass entweder die wirksame Fläche zu klein (wenn auch tiefere, langwellige Frequenzen mit beeinflusst werden sollen) oder das bedämpfte Spektrum falsch und zu eng bemessen wird. So führt beispielsweise die Bearbeitung einer Primärreflexionsfläche mit einem dünnschichtigen Schaumstoff (eventuell sogar noch mit vergrößerter Oberfläche wie zum Beispiel bei Waffel- oder Pyramidenschaum) zu einer spektral sehr inhomogenen Bedämpfung. Dabei werden Schallanteile mit steigender Frequenz stark unterdrückt. Bei tiefen Frequenzen bleiben die reflektierten Anteile hingegen weitgehend unbeeinflusst. Folge ist, dass der Klangcharakter sehr schnell „stumpf“ und „glanzlos“ sowie tonal unausgewogen werden kann und besonders die Lokalisation sehr inhomogen wird. Die wichtigen Frühinformationen des Originalsignals können nur partiell für höhere Frequenzen wiederhergestellt werden.
Grundsätzlich sollten frühe Reflexionszonen im Raum mit einer möglichst breitbandig wirksamen Veränderung unterdrückt werden. Je nach spektraler Verteilung des Nachhalls ist es sogar zweckmäßig, höhere Frequenzen tendenziell weniger zu bedämpfen und diese eher in Ihrer Richtung zu verändern.
Der zeitliche Bereich „nach“ der Initialzeit (der Einkerbung in der empfohlenen Hüllkurve) steht für die „kreative“ akustische Gestaltung eines Hörraums zur Verfügung. Dabei ist kreativ durchaus im eigentlichen Wortsinn gemeint, denn diese akustischen Eigenschaften beziehen sich nicht auf ein absolutes Maß. Um es klar zu sagen: den Referenz-Abhörraum gib es nicht! Vielmehr richten sich die im positiven Sinn gemeinten akustischen Eigenschaften an den physikalischen Voraussetzungen des Abhörraums und seiner individuellen Nutzung aus. Ein Regieraum, in dem den ganzen Tag intensiv gearbeitet werden muss, sieht sicher akustisch anders aus, als ein Demoraum für kurze Hörproben. Man muss sich folglich zuerst einmal klar darüber werden, was man eigentlich möchte. Wie lange wird gehört, welche durchschnittlichen Hörpegel werden realisiert, welches Material soll abgehört werden und so weiter. Dabei spielen natürlich auch subjektive Hörgewohnheiten und persönliche Präferenzen eine große Rolle. Ebenso kann die spezifische Nutzung des Raums eine entscheidende Rolle spielen. Geht es um den reinen Spaß an der Musik, wird Tonmaterial bearbeitet oder dient der Raum der Beurteilung der klanglichen Eigenschaften von Geräten? Alle diese Faktoren gehen mit in die „kreative“ Akustik eines Abhörraums ein. Um an dieser Stelle die Sache etwas zu vereinfachen, beziehen wir uns nun auf die Situation, in der der Spaß am Hören im Vordergrund stehen soll.